Diese Webseite nutzt Cookies

Diese Webseite nutzt Cookies zur Verbesserung des Erlebnisses unserer Besucher. Indem Sie weiterhin auf dieser Webseite navigieren, erklären Sie sich mit unserer Verwendung von Cookies einverstanden.

Fachbeiträge "Aufsicht im Museum / QEM"

Seltene russische Literatur aus europäischen Bibliotheken gestohlen

Ein Lehrstück über das organisierte Vorgehen von Tätern

Im Dezember 2023 hat das österreichische Bundeskriminalamt auf Diebstähle von russischer Literatur aus Bibliotheken in Frankreich, der Schweiz und Deutschland hingewiesen und erhöhte Aufmerksamkeit empfohlen. (Anm. 1) Im Frühjahr 2024 wurde eine Bande von Bücherdieben gefasst, die auf Erstausgaben russischer Autoren spezialisiert war. Der Fall beleuchtet das professionelle Vorgehen solcher Täter und er zeigt, dass betroffene Kultureinrichtungen nicht schweigen sollten.

Wie groß ist der Schaden?

Seit 2022 wurden zunehmend Vorkommen registriert, bei denen wertvolle Erstausgaben russischer Autoren wie Alexander Puschkin oder Nikolai Gogol aus öffentlichen Bibliotheken verschwanden. Waren zunächst das Baltikum und Polen betroffen, kamen bald Meldungen über Vorfälle in Frankreich, Tschechien, Finnland, der Schweiz und Deutschland hinzu. Im April 2024 teilte die europäische Polizeibehörde Europol mit: „During an action day supported by Europol and Eurojust and executed on 24 April 2024 in Georgia and Latvia, four Georgians suspected of stealing antique and rare books from libraries across Europe were taken into custody. In total, the criminal group is believed to be responsible for the theft of at least 170 books, causing financial damages amounting to around EUR 2 500 000 and an immeasurable patrimonial loss to society.“ (Anm. 2) Es ist davon auszugehen, dass einige der gestohlenen Werke in russischen Auktionshäusern versteigert wurden und somit faktisch verloren seien. Vereinzelt wurde gemutmaßt, ob eventuell Moskau „seine Finger im Spiel“ habe. (Anm. 3)

Banale Brutalität bzw. raffinierte Täuschung

Die der Taten Beschuldigten wendeten im Wesentlichen offenbar zwei Methoden an, die unterschiedlicher kaum sein können. In einigen Fällen sollen sie zunächst die betroffenen Bibliotheken auf lohnende Beute besucht und überprüft haben, um dann in die Einrichtungen einzubrechen und die Werke zu stehlen – der „Klassiker“ sozusagen. Die andere Vorgehensweise aber lohnt einen genaueren Blick: „In den Bibliotheken fragten die Diebe, ob sie die wertvollen Bücher sehen konnten, und gaben dabei ein wissenschaftliches Interesse vor. Dann hätten sie die Werke genau vermessen und fotografiert, bevor sie sie zurückgaben. Später kehrten die Täter zurück und wollten erneut die Bücher sehen. Doch diesmal gaben sie gefälschte Versionen zurück. Die Kopien waren Europol zufolge von ausgezeichneter Qualität.“ (Anm. 4)
„Den größten Verlust erlitt die Universitätsbibliothek in Warschau, aus der 79 Bücher im Wert von einer Million Euro verschwanden. Die Bibliotheksleiterin wurde daher im vorigen Herbst entlassen. Eines dieser Bücher soll inzwischen in Moskau bei einer Auktion verkauft worden sein. Zuvor waren aus der Universitätsbibliothek im estnischen Tartu acht Puschkin- und Gogol-Ausgaben im Wert von 158.000 Euro entwendet worden, aus Lettlands Nationalbibliothek in Riga verschwanden drei, aus der Universitätsbibliothek im litauischen Vilnius 17 Bücher im Wert von 400.000 Euro.“ (Anm. 5) Relevanter Nebeneffekt dieser raffinierten Methode: Da die Fälschungen sehr gut waren, dauerte es teilweise Monate, bis den betroffenen Einrichtungen überhaupt auffiel, dass es sich um Kopien handelte.

Europaweite Zusammenarbeit führt zu Aufklärung

Die Ermittlungen zur Aufklärung des Falles haben in Frankreich begonnen. Zuvor waren aus der französischen Nationalbibliothek acht Puschkin-Ausgaben und ein Buch von Mikhail Lermontow gestohlen und durch Kopien ersetzt worden. Kurz darauf hatte die Staatsbibliothek in Berlin drei gestohlene Puschkins und zwei andere Bücher im »Missing Book Register« angemeldet. „Die Staatsbibliothek vermisst fünf belletristische Werke in russischer Sprache, die in den Jahren 1827 bis 1831 bzw. 1914 bis 1917 in Russland und Georgien publiziert wurden. Auf dem internationalen Antiquariamarkt wurde in den vergangenen Jahren für Ausgaben der vermissten Werke insgesamt ein niedriger sechsstelliger Betrag aufgebracht.“ (Anm. 6) Da die Verdächtigen sich vor ihren Coups in den Bibliotheken meist mit (gefälschten) georgischen Reisepässen ausgewiesen hatten, wurden die Ermittlungen rasch international ausgeweitet. Der Zugriff erfolgte im Januar 2024: „Rund 100 Ermittler hatten in Lettland und Georgien am Mittwoch gemeinsam zugegriffen – unterstützt von Europol und der Justizbehörde Eurojust. Sie nahmen vier Georgier fest. Die übrigen Verdächtigen waren bereits in den Tagen zuvor in Estland, Frankreich und Litauen festgenommen worden. In Georgien und Lettland wurden 27 Gebäude durchsucht und 150 Bücher sichergestellt. Deren Herkunft wird noch untersucht. Ein Buch konnte bereits an eine Bibliothek in Frankreich zurückgegeben worden.“ (Anm. 7)

Schweigen ist womöglich Teil des Problems!

Gewarnt durch die professionell durchgeführten Vorkommnisse sichten Bibliotheken nun ihre Bestände, um mögliche weitere Diebstähle aufzudecken und um die Sicherheit ihrer Bestände zu verbessern. So hat „die Staatsbibliothek ihre Sicherheitsvorkehrungen seit Bekanntwerden der Diebstähle analysiert und optimiert, um das konkrete Agieren der Diebe zu erschweren. Diese Anpassungen und sonstige Aussagen zu Sicherheitskonzepten können öffentlich nicht weiter spezifiziert werden. Die Staatsbibliothek arbeitet eng mit den Ermittlungsbehörden zusammen.“ (Anm. 8)

Der Ermittlung gegen die mutmaßlichen Täter war nur möglich dank einer eng abgestimmten internationalen Zusammenarbeit. Dieser Erfolg aber setzt voraus, dass betroffene Einrichtungen die zuständigen Behörden möglichst früh und möglichst umfassend informieren. Wie bei anderen Verbrechen, spielt das beschämte Verschweigen von Pannen und Verlusten den Tätern in die Hände. Das gilt auch für die zunehmend verbreitete Cyberkriminalität, bei der zum Beispiel Hacker Lösegeld erpressen wollen. Oft verschweigen betroffene Unternehmen und Organisationen eine solche Attacke, da sie als Versagen gewertet wird. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) ist im Frühjahr 2023 auf breiter Front gehackt worden, hat sich aber dazu entschieden, die Hintergründe publik zu machen, damit andere Betroffene ihre Lehren daraus ziehen können, um sich besser vor Attacken zu schützen. (Anm. 9)

Das „Missing Books Register“ wurde 2012 von der International League of Antiquarian Booksellers gegründet, die in Genf ihren Sitz hat. In der Datenbank sind wertvolle und / oder historisch bedeutende Bücher registriert, sodass Bibliotheken oder Antiquare entwendetes oder vermisstes Material nachverfolgen können. Vermerkt sind Objekte, die nach dem 15. Juni 2010 gestohlen wurden, darunter auch die jüngst betroffenen Werke russischer Autoren.

Berthold Schmitt, Herausgeber der Fachzeitschrift KulturBetrieb

Anm. 1: Achtung: Diebstähle wertvoller russischer Literatur aus Bibliotheken, 06.12.2023; Quelle: voeb-b.at/achtung-diebstaehle-wertvoller-russischer-literatur-aus-bibliotheken/ ; Abfrage: 05.07.2024
Anm. 2: 9 Georgian nationals arrested for stealing antique books, in: Europol, 24.04.2024; Quelle: https://www.europol.europa.eu/media-press/newsroom/news/9-georgian-nationals-arrested-for-stealing-antique-books ; Abfrage: 05.07.2024
Anm. 3: Vgl. Diana Kassal, Bücher-Bande klaut russische Werke in Millionenwert. Hat Moskau seine Finger im Spiel? In: BILD; 22.02.2024; Quelle: https://www.bild.de/geld/wirtschaft/wirtschaft/auch-in-deutschland-bande-klaut-russische-buecher-in-millionenwert-87119274.bild.html ; Abfrage: 04.07.2024
Anm. 4: Schaden in Millionenhöhe: Bande von Bücherdieben gefasst – spezialisiert auf Erstausgaben russischer Autoren. Diebe sollen in europäischen Bibliotheken kostbare Ausgaben von Puschkin oder Gogol gestohlen und durch Kopien ersetzt haben. Einige wurden offenbar in Russland versteigert, in: SPIEGEL KULTUR, 25.04.2024; Quelle: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/bande-von-buecherdieben-gefasst-spezialisiert-auf-erstausgaben-russischer-autoren-a-1810ab8f-9cba-44e1-8b75-5127a5466352 ; Abfrage: 04.07.2024
Anm. 5: Kerstin Holm, Teure russische Bücher geraubt, in: Frankfurter Allgemeine, 25.01.2024; Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/wertvolle-russische-buecher-aus-bibliotheken-gestohlen-19468237.html ; Abfrage: 04.07.2024
Anm. 6: Barbara Heindl, Diebstahl historischer russischer Bücher, in: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Blog-Netzwerk für Forschung und Kultur, 25.01.2024; Quelle: https://blog.sbb.berlin/diebstahl-historischer-russischer-buecher/ ; Abfrage: 04.07.2024
Anm. 7: Schaden in Millionenhöhe, in: SPIEGEL KULTUR, 25.04.2024
Anm. 8: Heindl, Diebstahl historischer russischer Bücher, 25.01.2024
Anm. 9: Vgl. Berthold Schmitt, Was macht eigentlich ihr Business Continuity Management? Kulturbetriebe sollten sich wappnen, bevor sie gehackt werden, in: KulturBetrieb, eins 2024, S. 56-58.

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in KulturBetrieb zwei 2024, S. 78 f.